rock will never die
   rock will never die

30 Jahre Gov`t Mule

Als Gouverment Mule am 22.06.2010 die Bühne des Le Kursaal in Limbourg (Belgien) betraten hatte ich nicht das geringste Vorgefühl, dass jener Abend mein musikalisches Verständnis von Livekonzerten grundlegend verändern würde. Sicher, auf einem aus Polycarbonat bestehenden Silberling, im Volksmund CD genannt (vorzugsweise sollte man aber selbstredend auf eine Vinyl-Ausgabe zurückgreifen), hatte ich im Vorfeld schon einige Stücke aus dem schier unerschöpflichen Fundus der Band gehört und war jedes Mal dermaßen geflasht von der Intensität und der scheinbaren Selbstverständlichkeit der Reichweite der Stücke, dass ich mir eine Steigerung nur schwer vorstellen konnte. Doch weit gefehlt. Dass das ausgerechnet in einem etwas abgewirtschaftetem alten belgischen Theater passieren sollte, lag ebenfalls weit unter meinem Radar. Warum gerade hier? Vielleicht wollten die Band eine Brücke schlagen zwischen den Menschen dieser eher armen Region nahe der deutschen Grenze und eben jenen, die nicht weit auf der anderen Seite des Schlagbaums leben, in „Saus und Braus“. Indes transformierte dieser Abend alles, was ich je an Live-Musik bis dato erfahren hatte, in eine neue Dimension. Ein Konzert von Gov`t Mule, das habe ich spätestens in jener Nacht gelernt, gleicht immer einem erwartungswidrigen Paukenschlag. Ist das erste Set vielleicht getränkt von bluesigen Farben, instigierenden Pianoeinlagen auf der Hammond oder Jazz-Anleihen, haut Dich der zweite Teil dagegen dermaßen aus der Laufbahn, dass Du Gnade wimmernd um eine Zugabe bettelst, um diesen Trip ja nicht verlassen zu müssen. Die Vehemenz mit der die Herren Haynes, Abts, Louis und Carlsson (bis 2023, seit diesem Jahr durch Kevin Scott ersetzt) auf jeder Tour, bei jedem Song an den Tag legen, ist immens. Man könnte auch sagen in hohem Maße (positiv) barbarisch. Ausufernde, akustische Extempore stehen auf jeder Agenda der Band. Saitenriffs, die nicht von diesem Universum stammen können. Dazu die intensive, manchmal schmerzlich getränkte Stimme Warren Haynes, es gibt nichts Befriedigendes als ein Gov`t Mule Konzert. Für jeden „Neueinsteiger“ sollte die Rockpalast Aufzeichnung aus Köln, 2005, ganz oben auf der Prioritätenliste stehen. Vorher kommen wir gar nicht erst ins Gespräch.

 

 

Zudem finden sich unzählige Huldigungen von Vorbildern in ihrem musikalischen Fundus bzw., sind Bestandteil ganzer Konzertreihen. Man denke nur an die beispiellose Veröffentlichung der Live-Aufeinanderfolge aus ihrem Archiv, anlässlich ihres 20-jährigen Bandjubiläums. Beginnend mit dem phänomenalen „Dark Side Of The Mule“ Konzert aus 2009, wo sie zunächst Pink Floyd grandios huldigten. Das tiefe Verständnis, mit dem die Band hier ans Werk ging, Pink Floyd zu interpretieren, ohne sie zu kopieren, ihnen also ihren eigenen Duktus, ihre eigene künstlerische Formgebung verpasste, ist einzigartig. Das Quartett um Warren Haynes verstand und versteht es einfach, der Denkweise des ursprünglichen beständig zu bleiben und ihm trotzdem ein eigenes Leben einzuhauchen. „Dark Side Of The Mule“ ist dafür beispielhaft bravourös. Ähnliches gelang es der Band mit den Alben „Sco-Mule“ (Eine Live-Zusammenarbeit mit John Scofield) und „Dub Side Of The Mule“ aus 2006 (Reagge). Beendet wurde diese erhabene Reihe mit dem Mitschnitt ihres Halloween-Konzerts aus 2009 im Tower Theater von Upper Darby, PA., wo sie einige Rolling Stones Songs zum Besten gaben, ganz in der Tradition der vorangegangenen Veröffentlichungen. Das musikalische Quantum, welches sie auf jenen Veröffentlichungen darlegten, sucht bis heute ihres gleiche. Eine Studioplatte dieser Band kann niemals hinreichend ein Live-Erlebnis ersetzen, wobei jede einzelne Studioplatte selbstredend ein Juwel für sich darstellt. Und eine Live-Platte von Gouverment Mule im heimischen Regal zu haben, um sich an verregneten Herbstabenden oder einfach nur der akustischen Schenkung wegen raus aus dieser kranken Welt zu schießen und für ein paar Stunden in eine andere Existenz zu tauchen, ist unentbehrlich.

 

Doch zurück zu den Anfängen: 1994 zunächst als Side-Projekt von Warren Haynes und dem Bassisten Allen Woody ins Leben gerufen, beide waren damals Mitglieder der Allmann Brothers Band, wurde relativ schnell klar, dass es nicht bei einem solchen bleiben wird. Daraus resultierend gründete man schließlich gemeinsam mit Drummer Matt Abts (u.a. Schlagzeuger bei Dickey Betts), die Band Gouverment Mule. Keineswegs eine politische Aussage, wie man vielleicht vermuten könnte wörtlich: Regierungsesel), sondern schlicht und einfach die Bezeichnung (ein Slang-Ausdruck aus dem Süden der U.S.A.) für ein „großes“, weibliches Gesäß. Als Woody im Jahr 2000 überraschend an einem Herzinfarkt verstarb, führte das keineswegs zu einem Stillstand: Auf der Suche nach Ersatz stieß man unter anderem auf Flea (Red Hot Chili Peppers), George Porter jr. und Jason Newsted (Ex-Metallica) und andere, alle waren jedoch nicht disponibel. Doch sie halfen aus. Um Allen zu würdigen luden die verbleibenden Bandmitglieder eine Reihe von weiteren Bassisten, die von Woody bewundert wurden, ein, und schufen mit Ihnen die Alben „The Deep End Vol. 1 & 2“. Andy Hess von den Black Crowes wurde 2003 dann als neuer Bass-Player für die Band verpflichtet und auch Danny Louis stieg im gleichen Jahr als Keyboarder mit ins Boot, womit man den Sound um ein entscheidendes Element erweiterte. Das Ergebnis der neuen Konstellation ist mit den beiden Studioalben „Deja Voodoo“ (2004) und „High&Mighty“ (2006), hinreichend belegt. 2008 dann der erneute Wechsel an der Bassgitarre durch den Schweden Jorgan Carlson, der Gov`t Mule dann bis 2023 die Treue hielt.  Doch genug der Fakten. Gehen wir wieder in die mentale Schiene, da, wo Gouverment Mule tief in Deine Seele vordringen, Deine Ängste aber auch Deine Träume wecken, Deine stärksten Emotionen an die Oberfläche holen, Deine Fassade bröckeln lassen, Dir den Spiegel vorhalten und Dir die Wahrheit da zeigen, wo Du es nie vermuten würdest. Keine andere Band kann Dich so in die geistige Stratosphäre schießen, Dich dort verharren lassen, solange sie will, nicht Du, und Dich dann mit einer Wucht in die Zeit zurück katapultieren, dass Dich ein derart gutartiger Vertigo erfasst, der Dich an den Dimensionen der Gegenwart zweifeln lässt. Das limbische Kontrollzentrum in Deinem Zerebrum ergibt nach jedem Song etwas mehr und Deine Emotionen werden grenzenlos. Zweifelsohne werden alle diese Vorgänge, die musikalischen Verflechtungen und Entwicklungen nur von einem Mann gesteuert: Warren Haynes. Der 1960 in Asheville, North Carolina geborene Gitarrist, Sänger und Songschreiber, ist das Encephalon der Band, wahrscheinlich des gesamten musikalischen Universums. Spieltechnisch hochvirtuos zaubert er aus dem Handgelenk akustische Exzesse, die Dich in den Wahnsinn treiben können. Seine ausdrucksstarke, musikalische Variabilität kennt keine Grenzen. Ob erbarmungsloses Riffing oder fesselnde Klangfülle mit bluesigen Dekorationen, Warren findet immer die richtigen Farben. Die Kollaborationen, die er bereits mit anderen Musikern eingegangen ist, scheint schier endlos. Außerdem trat und tritt er bei den Allman Brothers in Erscheinung, den The Dead, Phil Lesh & Friends, der Derek Trucks Band oder Dave Matthews. Nebenbei pflegt er noch sein eigenes Projekt, die Warren Haynes Band. Gerade auch in seinen Solo-Projekten läuft sich Haynes stehts auf Americana Pfaden.  Blues, Folk und Country sind hier ganz eng miteinander verwoben. Aber auch das soulgetränkte Meisterwerk „Man In Motion“ aus 2015 ist ein Meilenstein in seinem Schaffen. Warren Haynes ist ein liebenswerter Berserker mit Gefühl, so könnte man ihn beschreiben. Zudem Grammy-Preisträger und im Rolling Stone im Jahr 2016 auf Platz 23 der besten und renommiertesten Gitarristen der Welt gelistet. Haynes definitiv mit doppelter Prädestination beauftragt. Er kann Dich mit seinem Spiel in selige Gefilde oder ins Reich der Finsternis schicken. Deine mentale Beschaffenheit entscheidet darüber. Privatleben? Haynes scheint auf der Bühne zu leben.

Noch was zum musikalischen Charakter der Band: Stilistisch lassen sich die Maultiere sich in keine feststehende Vorstellung kategorisieren. Die Verschmelzung aus Heavy-Blues, Southern-Rock, Soul, Funk und Jazzelementen, Blues und streckenweisem Hardrock machen Gov`t Mule zu einer der einflussreichsten und Wegweisesten Jamrockband der Geschichte. Und diese schreiben sie anno 2024 bereits seit nunmehr 30 Jahren.

 

Warren Haynes beim Konzert am 22.03.2016 in Limbourg/Belgien

 

Juni 2010, Limbourg: Pünktlich um 20 Uhr startete mein allererstes Gov`t Mule Konzert. Im ersten Set spielte man 10 Stücke quer aus ihrem Repertoire, die heute bereits Kultstaus haben. Angefangen mit „Mr. Man“, „Steppin´ lightly“, „Mother earth“ oder „Broken down on the brazos“. Aber auch der Beatles Klassiker „Tomorrow never knows“ fand Einzug in das den ersten Teil der Show, was angesichts ihrer Vorlieben für Coverversionen nicht ungewöhnlich war. Nicht ungewöhnlich war und ist die Wortkargheit des Bandleaders, der sich jedoch, während der Zuschauer-Applikationen immerhin ein Lächeln abrang. Ein gelegentlichen „Thank you“ gehört allerdings auch zu seinem Wortschatz während eines Live-Konzertes. Halt ganz Warren Haynes. Man kann es ihm nicht verübeln. Im zweiten Teil wurde die Handbremse dann komplett ausgehebelt und das kleine, atmosphärischer Theater quasi bis auf die Grundmauern gerockt. Auf der Bühne sind sie eine unzertrennbare Einheit. Ob Jorgens intensive Bassläufe am Viersaiter, Dannys Pianoeinlagen bzw. Trompeteneinlagen oder Matts Drumsolo am Kit. In Verbindung mit Warrens langen Solis und Rock-Riffs bleiben Gov`t Mule unübertrefflich. Fast telepathisch baut die Band eine Brücke zu ihren Gefolgsleuten, den Muleheads. An Reservekapazitäten sollte es dann nicht scheitern. Warren sagte mal in einem Interview, dass seine Band rund 300 Titel aus dem stehgreif spielen könnte. Na dann, die Grenze konnte warten. Und so zog man in der Encore noch den 3:28 Minuten langen Van Morrison Song „Into the mystic“ in einer unheimlich intensiven Version auf weit über 7 Minuten. Irgendwie war jenes Stück dann auch sinnbildlich für mich. „Into the mystic“ fordert Dich auf, der Realität zu entfliehen und die Mysterien des Daseins zu entdecken. Endgültig beendet wurde der Abend dann gänsehautmäßig mit dem Klassiker schlechthin, „Soulshine“, der akustische Klimax eines jeden Gov`t Mule Konzerts.

 

Von nun an war ich ein Mulehead, unwiderruflich. Wo immer die Reise hingehen mag, was immer auch passiert: Gov`t Mule is on my mind. Du kannst mir sagen, was Du willst; Hierarchieführendes Establishment, gesteuerte Medien, Gouverment Mule schert das alles einen Dreck. Sie haben eine eigene Meinung, eine eigene Botschaft, und die vertreten sie in ihren Songs. Gouverment Mule sind eine wichtige Form kulturellen Ausdrucks und werden es hoffentlich noch lange bleiben.

 

 

 

 

 

 

rockfrank