rock will never die
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Im Gespräch mit...Julia Neigel

rockfrank.com traf die Ikone der deutschen Rock- und Popmusik, Julia Neigel, zu einem ausführlichen Gespräch über Ihre Karriere, aktuelles weltpolitisches Geschehen und Musik im Allgemeinen.

all photos by: Dana Barthel

 

Julia antwortet auf die Einstiegsfrage, ob es aktuell einen Song oder einen Künstler, eine Künstlerin gibt, die sie begeistert, nach kurzem Überlegen mit Teddy Swims, dem amerikanischen Singer/Songwriter, der mit der gänsehautlastigen Stimme. Als sie den etwas unsicheren Blick des Interviewers bemerkte, zog sie sofort ihr Handy und spielte auf YouTube den Song „Lose control“ von genanntem Künstler in einer Live-Version vor und wippte im Takt mit auf ihrem Stuhl.

 

rockfrank: Du bist Russlanddeutsche, also in Deutschland aufgewachsen, aber in Russland geboren. Wie hat dieser kulturelle Hintergrund Dein Leben, aber vielleicht auch Deine Musik geprägt?

 

Die Sängerin erzählt von ihrer Kindheit in Russland, einer kleinen Stadt in Sibirien, dass sie viel in der Natur unterwegs war, allgemein gerne draußen gespielt hat und natürlich völlig anders aufgewachsen ist als in Westeuropäischen Ländern, jene Tatsache also natürlich prägend für ihr weiteres Leben war. Auch in musikalischer Hinsicht:

 

Julia Neigel: In der Familie hat sich immer irgendjemand mit einem Akkordeon hingesetzt, und dann hat man gesungen. Zwei-, dreistimmige russische Lieder, die ich zwar nicht verstanden habe, aber bei Partys oder Geburtstagen war das gang und gäbe. Und das ist natürlich schon prägend. Wenn die Leute in der Familie schon singen bei jeder zweiten, dritten Gelegenheit, wenn Du morgens schon mitbekommst, dass die Mutter vor sich hin summt, einfach nur, weil sie gerne summt oder singt, und wenn dass selbstverständlich ist, dass jeder singt und da man auch Hausmusik macht, dann wächst man schon damit auf, also mit dem Singen und Musizieren. Und das vermisse ich hier sehr, dass das hier bei uns tatsächlich nicht Tradition ist. Das war früher auch Tradition. Zu Zeiten, als dieses Haus entstanden ist (Musiktheater Piano um 1903, damals ein großes Gasthaus), war das auch selbstverständlich. Das hat natürlich geprägt. Aber musikalisch gesehen hat mich sicher nicht die russische Kultur geprägt. Mich hat die englische, die amerikanische Kultur geprägt. Die Beatles z.B.

 

rockfrank: Ich las irgendwo, dass deine erste Platte „Revolver“ war.

 

Julia Neigel: Genau. Die Beatles waren für mich prägend für das, was ich heute mache. Ich habe mit sechs Jahren angefangen klassische Musik zu machen. Als wir hierher kamen, habe ich einen Eignungstest gemacht, ob ich überhaupt eingeschult werden kann. Da wurde festgestellt, dass ich musikalisch hochbegabt bin und sie haben meiner Mutter empfohlen, mich zu fördern. Ich wurde dann an der klassischen Musikschule angemeldet. Ich habe später professionelle Wettbewerbe mitgemacht (Jugend musiziert) und auch einige gewonnen. Ich bin dadurch mit dem Musizieren aufgewachsen. Ich habe auch klassische Sonaten gespielt. Und dann habe ich die Beatles gehört. Und ab da war es dann vorbei. Ich wollte keine Klassik mehr machen, ich wollte unbedingt singen. Ich wollte Lieder schreiben und ich wollte singen.

 

 

rockfrank: Du bist eine Künstlerin, die auch zu politischen und gesellschaftlichen Themen Stellung bezieht. Ich denke da z.B. an Deinen Song „Im Namen der Nation“. Ein unheimlich aggressiver und bissiger Song, textlich sowie musikalisch. Was glaubst Du, können solche Protestsongs/Antikriegslieder, die ja bis in die Zeit eines jungen Bob Dylan zurückgehen, wirklich etwas verändern, oder sind sie eher Ausdruck von Ohnmacht und Hilflosigkeit?

 

Julia Neigel: Weißt Du, ehrlich, ich habe darüber nicht nachgedacht, ob ich irgendjemand damit zum Nachdenken anregen kann. Aber ich denke schon, ich denke, dass Musik immer etwas bewirken kann. Und vor allen Dingen auch Menschen vereint. Und wenn sie Menschen vereint und Botschaften in sich trägt, die zum Nachdenken anregen, wird das bestimmt wenigsten einen oder zwei erreichen. Das grundsätzlich schon. Es gibt Tausende von Beispielen; Bob Dylan, der hat extreme Dinge bewirkt. Oder „Give peace a chance“ von John Lennon. Ich meine, solche Dinge sind der beste Beweis dafür, dass Musik unglaublich viel bewegen kann. Unglaublich viel! Ob das jetzt bei meinen Liedern so ist, dass muss man die Fans fragen oder diejenigen, die sich das anhören.

 

rockfrank: Das verstehe ich, obwohl ich es eher generell bezogen hatte.

 

Julia Neigel: Ja, ich gehöre schon noch der Generation an, die auch zum Teil demonstriert hat, gegen die Pershing. Ich wohne in Rheinland-Pfalz und da gibt es halt auch Ramstein. Und wir wollten die nicht da haben. Wir hatten das Problem, dass überall die Alliierten waren. Wir sind in der Zeit des kalten Krieges aufwachsen und haben das mit Bewusstsein verstanden, wie weit das gehen kann, wenn wir da nicht aufpassen. Und ich bin nach wie vor gegen die Rüstungsindustrie. Ich halte das für den falschen Weg. Das ist, wie wenn Du einem Alkoholiker Whiskey in die Hand drückst. Du kannst einen Alkoholiker niemals mit Whiskey vom Alkoholismus abbringen. Und so ist das auch mit der Gewalt und mit der Rüstungsindustrie. Das ist ein dicker, fetter Industriezweig und ich finde es beschämend, dass die Bundesregierung mittlerweile, ich glaube sie hat sich in den letzten 20 Jahren hochgearbeitet von Platz 20, weltweit größter Waffenlieferant, auf Platz 4 ist, 4! Ich finde das beschämend.

 

rockfrank: Gerade wurde wieder ein 50-Millionen-Paket für die Ukraine beschlossen, wo Deutschland einen großen Anteil daran hat.

 

Julia Neigel: Humanitär ist das in Ordnung. Aber diese Waffen. Diese Waffen töten Menschen. Und diese Waffen erzeugen noch mehr Gewalt. Ich bin einfach der festen Überzeugung, dass das nicht die richtige Lösung ist. Grundsätzlich. Und dieses Argument, die Ukraine als Kriegszustand dafür zu nutzen, jetzt auf Platz 4 zu gehen, ist kein Argument. Denn wir haben 26 Kriege in der Welt. Da laufen Leute rum, die haben deutsche Waffen in der Hand und schießen Kinder ab. Und die (Regierung) weiß auch, vertraglich ist das nicht ganz ohne. Im Völkerrecht gibt es ja den Zivilpakt 1 mit dem Artikel 20: Du darfst nicht an Kriegspropaganda teilnehmen, Du darfst keine rassistische Parolen gegen andere Bevölkerungsschichten machen, und da gehört unter anderem auch dazu, du darfst nicht aufrüsten. Deutschland sollte sich als Bundeswehr immer nur in einer reinen Verteidigungshaltung bewegen und nicht provozieren. Und ich finde, alleine die Rüstungsindustrie so hoch zu peitschen ist eine reine Provokation. Mussolini hat als Faschist mal über den Faschismus gesagt: Der wahre Faschismus ist eigentlich Korporatismus. Und zwar die Verschmelzung der Politikmacht mit der Konzernmacht. Und ich muss leider sagen, dieser Verbrecher hat recht. Tatsächlich beginnt die diktatorische Struktur immer mit politischer Macht in Verknüpfung mit Geld und Konzernmacht.

 

rockfrank: Du zeichnest Dich in Deinen Songs, aber auch in Deiner Persönlichkeit, durch Scharfsinn, Tiefgang und Reife aus. (Julia unterbricht: Findest Du? Interviewer: Ja. Julia: Danke, das sehe ich als Kompliment, danke). Ist es für Dich wichtig, in Zeiten wie den heutigen, mit wachsamem Verstand durchs Leben zu gehen und diese Achtsamkeit vielleicht auch in Deinen Texten zu verarbeiten?

 

Julia Neigel: Ich glaube es ist unumgänglich. Wenn man den Verstand verwendet, und wenn man sich als Freigeist sehen möchte, und das ist eigentlich mein Lebensmotto, dass ich ein freier Mensch bin und mein Geist auch, dann ist auch die Achtsamkeit, was um einen herum geschieht, durchaus sehr wichtig. Um einfach auch zu verstehen, wo befindet man sich. Will man in einem solchen Raum solche Dinge erleben oder nicht. Man muss ja erst mal wissen, will man da sein. Das ist der erste Aspekt. Und wenn man erkennt, da passiert irgendwas, das geht nicht gut, das gefällt einem nicht, dann ist es auch wichtig, das man sich dazu äußert. Das man etwas falsch findet oder kritisiert. Denn die Politik braucht das. Die Politik wird sonst ihre Macht, die sie ja vom Volk bekommt, auf eine gewisse Art und Weise möglicherweise auch missbrauchen. Ich sehe das wie Gustav Heinemann: Das Volk hat das Recht, die Politik zu Ordnung zu rufen, die Regierung. Das ist unsere Aufgabe. Wir sind mündige Bürger. Ganz im Sinne von Immanuel Kant. Und der Humanismus ist für mich eine ganz prägende Wertevorstellung, nach der ich leben möchte und nach der ich hoffentlich auch lebe.

 

rockfrank: Doch wenn Du als Bürger heutzutage auf die Straße gehst, wirst Du direkt in eine „rechte Ecke“ gedrückt.

 

Julia Neigel: Aber weißt Du, wer drückt einen in die „rechte Ecke“? Es ist ja immer so ein „Sender/Empfänger“ Ding. Wenn irgendein Dritter sagt, Du bist so oder so, aber Du weißt, dass Du gar nicht so denkst, dann kann es Dir letztendlich egal sind. Als ich mich z.B. um Tesla gekümmert habe, oder besser gesagt, um Grünheide, da ging es um den Naturschutz, um ein Trinkwassergebiet, da gab es ein paar grüne Politiker auf Facebook, und die haben einen Shitstorm lostreten. Weil ich den Wald, die Natur und das Trinkwasser dieser Leute beschützen wollte! Die haben mich als rechtsradikal bezeichnet. Da habe ich die Partei aus der Region angeschrieben und gefragt ob sie mittlerweile soweit sind dass sie CDs auf einen Scheiterhaufen legen und anzünden. Sind wir wieder soweit? Diese Rechtskeule ist ein Narrativ. Das nennt sich dialektische Eristik. Schopenhauer hat es so erklärt. (Arthur Schopenhauer, deutscher Philosoph und Lehrer). Und wenn man das weiß, dann sagt man, ok, das ist Dein Denken. Das geht mich nichts an. Ich weiß, wer ich bin. Ich würde auch sagen, dass sich der Begriff des ‚rechts‘ politisch gesehen auch sehr stark verändert hat. Früher war rechts CDU, früher war rechst Konservativ / liberal FDP. Was interessiert mich denen ihre Denkweise? Das geht mich gar nichts an. Ich weiß, wer und was ich bin. Deswegen ist es wichtig, weiterhin ganz normal zu sagen, was man will und was man nicht will. Was man wichtig findet und was nicht. Denn wenn wir eine Gesellschaft voller Gleichgültig sind, wird es automatisch zu einem Problem kommen, das noch viel größer ist als jetzt. Wir dürfen diese Gleichgültigkeit nicht haben. Wir müssen sozial und menschlich miteinander umgehen. Das ist unsere menschliche Pflicht in der Gesellschaft. Meine Meinung.

 

 

rockfrank: Gab es Perioden, in denen Du kreative Krisen hattest, Dir die Inspiration zu neuen Songs fehlte? Wenn ja, wie gingst/gehst Du damit um?

 

Julia Neigel: Ja, z.B. in der Corona-Politik war das so. Da fiel mir praktisch nichts mehr ein. Denn es war ein solches Chaos um einen herum. Anrufe von Kollegen; jemand hat sich umgebracht, es gibt kein Geld mehr und andere Dinge. Dieses Katastrophen, die da in der Branche passiert sind, haben mich auch selbst sehr getroffen. Trotzdem bin ich da in die Aktion gegangen, habe mich mit Politikern getroffen, Lobbyarbeit geleistet. Da war ich nicht inspiriert, kreativ zu sein. Es lag aber auch daran, dass man sich kaum treffen konnte, um miteinander zu musizieren. Solch eine Phase hatte ich auch um die Jahrtausendwende. Ich habe die alte Band aufgelöst, mich für zwei Jahre zurückgezogen und mich umorientiert. Der Name Jule Neigel Band wurde gecancelt und vom Markt genommen, und ich verwendete ab dann meinen bürgerlichen Namen. In den zwei, drei Jahren war ich nicht wirklich inspiriert, neue Songs zu schreiben. Aber ansonsten habe ich solche Phasen eigentlich nicht. Da muss schon viel um mich herum passieren, dass mir nichts einfällt.

 

rockfrank: Gab es künstlerische Entscheidungen in Deiner Karriere, die Du rückblickend heute anders treffen würdest?

 

Julia Neigel: Ja. Gerade in den Karriereanfängen. Ich hätte am Anfang, als „Schatten an der Wand“ entstand, ganz klar diese Band nicht gewählt. Ich hätte die alle rausgeworfen und einen Anwalt genommen. Vor allen Dingen hätte ich aus dem heutigen Wissen heraus die Musiker nach dem Charakter ausgesucht, nicht auf Grund der Tatsache, dass sie ein Instrument bedienen können. Das ist aber alles damals nicht geschehen, weil ich war eigentlich diejenige, die geleitet wurde und nicht selber Entscheidungen getroffen habe, in dieser Phase. Ich war einfach nur kreativ und wurde so mitgerissen, wie in einem Strom. Ich kann es nicht mal als Fehler bezeichnen, weißt Du. Man kann es selbst nicht als Fehler bezeichnen, wenn du selber nichts verbrochen hast, ganz normal warst und einfach reingelegt wurdest. Das sind Erfahrungen, die macht man nur einmal. Aber wenn ich könnte, würde ich das zu allererst ändern!

 

rockfrank: Fühlst Du Dich manchmal kommerziellen Zwängen unterworfen, also – ich muss jetzt einen neuen Hit abliefern – oder lässt Du Dich von so etwas nicht beeinflussen, legst lieber mehr Wert auf Deine persönliche Authentizität?

 

Julia Neigel: Findest Du dass ich so wirke?

 

rockfrank: Ich denke nicht.

 

Julia Neigel: Genau. Ich habe ja auch schon mal acht Jahre kein Album veröffentlicht, weil ich etwas anderes gemacht habe. Ich war auf Tour, habe mit einem Orchester gearbeitet und andere Projekte. Ich wollte mich in der Zeit gesanglich und musikalisch ausleben. Und wenn es dann wieder so weit ist, dann kommt eben ein Album. Ich mache das, was ich für richtig halte und gebe in allem mein Bestes. Alles, was ich tue, versuche ich mit einem Anspruch und Qualität abzuliefern. Ich selbst sowie mein Umfeld. Und dass ist das, was ich tue. So verstehe ich meinen Beruf. Was jetzt gerade draußen hip ist oder auch nicht, geht mich nichts an. Ich bin selbst jemand, von dem man sagt, das ich selbst Trends schaffe. Das habe ich nie bewusst gemacht, ich mache einfach das, was ich für richtig halte. Aber wenn es dann ein Trend ist, dann ist das schön. Generell hat es aber keinen Sinn, sich Trends zu widmen, weil man immer „später dran ist“. Man rennt einen Weg entlang, wo die Fußstapfen schon ausgetreten sind. Mich interessiert das Neue; Der Trampelpfad, der kleine Seitenausgang und Dinge, die neu zu entdecken sind. Ich bin da eine kleine Abenteurerin, auch was Musik betrifft.

 

 

rockfrank: Wie hat sich Deiner Meinung nach die Rolle der Frau im Musikbusiness über die Jahre verändert? Es gab immer schon starke feminine Persönlichkeiten unter den Kunstschaffenden: Ella Fitzgerald, Janis Joplin oder Patti Smith. Und eine Taylor Swift nimmt mit ihren Aussagen Einfluss auf die US-Präsidentschaftswahlen. Habt Ihr Eure männlichen Kollegen in Aussagekraft und Unverfälschtheit vielleicht schon längst überholt?

 

Julia Neigel: Ich finde nicht, nein. Ich gehöre ja zu der Generation die als Emanzipations-Bewegung immer noch ab und an Grenzen stecken musste. Also zu sagen, ich muss jetzt nicht sexy durch die Gegend rennen damit du mich als Künstlerin anerkennst. Sowas gab es ja. Solche Phasen hatten Frauen wie Tina Turner, die natürlich auch sexy war, aber die auch so gut war. Oder auch Frauen wie Sharon Stone oder die ganzen Liedermacherinnen, Joni Mitchell z.B. Die haben bewiesen, dass sie geile Musikerinnen sind und die wirklich was können. Dann gibt es noch eine Madonna, die ich wirklich faszinierend finde, die aber jetzt zeigt, woran sie leidet. Und ich persönlich sehe mit großer Besorgnis, was im Internet passiert. Ich habe das Internet immer mit einer gewissen Skepsis betrachtet weil eben alles kostenlos kulturmäßig geplündert werden kann. Dass liegt nicht an der Technik, die Technik kann nichts dafür, das liegt an der Politik. Das (Internet) mach die Leute auch ein bisschen süchtig. Es gibt ihnen den Schein, alles ist kostenlos, alles ist zu haben. Aber es gibt den Mädchen, und darauf will ich hinaus, auch den Schein, so musst Du aussehen, so musst Du küssen, so musst Du die Nägel haben, so musst Du angezogen sein etc. Und was ich sehe, ist, dass wir Rückschritte in der Emanzipation haben. Gerade die jungen Generationen, die davor sitzen und sich diese Duckfaces anschauen. Deren Konzentration auf ihre Selbstentfaltung geht weg vom Inneren zurück zum Äußeren. Und zwar wieder als Schablone und als Spiegel, als Sexsymbol für den Mann. Der von außen sagt, „wenn Du Dich so anziehst, wenn Du so aussiehst, dann gefällst Du mir“. Die (jungen Mädchen) sind weit weg von sich selbst und ihrer eigenen Selbstentfaltung. Das finde ich. Ich sehe das mit Besorgnis, weil wir waren da schon mal weiter, wir Frauen. Deswegen gibt es halt eine ganze Generation von Frauen, auch tolle Sängerinnen, Sia z.B., unglaublich geil, auch Rihanna. Aber da ist der sexistische Punkt zum Teil, aus meiner Sicht, überschritten. Wo ich denk, es geht gar nicht mehr, ohne das du im BH auftrittst. In den USA ist die Musikindustrie so aufgeblasen für Frauen, dass die eigentlich alle die Hintern raus strecken, den BH zeigen etc.

 

rockfrank: Das hat ja mit Madonna oder Cher in der 80‘ern so ein bisschen angefangen.

 

Julia Neigel: Madonna war anders in dieser Zeit. Madonna war frech, Madonna war nicht so gefügig. Madonna war extrem wild, im Verhältnis. Heute habe ich das Gefühl, das ist der Mainstream. Man muss und man tut es, weil... irgendjemand sagt, Du hast das jetzt zu tun. Ich finde das schade. Ich finde, das ist das Gegenteil von Emanzipation, wie ich sie verstanden habe.

 

rockfrank: Was motiviert Julia Neigel nach all den erfolgreichen Jahren, aber auch Krisensituationen, weiterhin noch auf der Bühne zu stehen? Oder anders gefragt: Wie bleibst Du als Künstlerin inspiriert, besonders nach so langer Zeit im Musikgeschäft?

 

Julia Neigel: Ich habe natürlich tolle Leute, mit denen ich zu tun habe. Ob hier, ob mit Silly, ich bin einfach vom Glück beseelt an der Stelle, ich bin da einfach ein Glückskind. Ich habe einfach geile Leute, mit denen ich zusammen arbeite. Es sind nicht nur musikalisch gute Leute, es sind auch menschlich gute Leute. Was mich motiviert, ist die Liebe zur Musik zum einen, das ist natürlich die Flamme, die in mir brennt. Aber auch immer besser zu werden, was Neues zu entdecken, vielleicht ein neues Genre aufzumachen, hier und da was auszuprobieren, sowie das kreative Miteinander. Und natürlich das Publikum. Live Konzerte sind der beste Indikator (wenn die Fans begeistert sind), sich zurückzuziehen und ein neues Album zu beginnen.

 

 

rockfrank: Wie gehst Du mit Kritik um, und hat sich Deine Einstellung dazu im Laufe der Jahre verändert?

 

Julia Neigel: Wenn sie konstruktiv ist und wenn sie nicht beleidigend ist, dann ist es ok. Kritik ist ja immer was Gutes. Man wird meistens dadurch besser. Ich bin meistens dafür dankbar, wenn es Sinn macht und ich was ändern kann. Im Normalfall sind diejenigen, die mir was sagen in der Richtung, dann auch konstruktiv. Und konstruktiv ist immer gut.

 

rockfrank: Glaubst Du, dass Musik heute eine andere Funktion in der Gesellschaft hat als früher?

 

Julia Neigel: Nicht in meinem Genre. Ich weiß nicht, ob das für diejenigen anders ist, die streamen und einfach nur Musik beim Essen hören. Ich denke, das war früher schon so, dass es solche gab, die Musik nur ein bisschen konsumieren, als Partymusik; und diejenigen, die Platten hören wollen und sich die Texte mal durchlesen, die sind ja immer noch da, die gibt es alle noch. Und ich denke, dass ich zu denjenigen gehöre, die Menschen auch ansprechen, die sich mit Musik auch ein bisschen intensiver beschäftigen möchten, davon gehe ich mal aus. Weil, meine Texte sind nicht so extrem oberflächlich, dass man sie einfach nur nebenbei hört. Ein Lied wie „Im Namen der Nation“, das knallt so aus dem Album raus, oder „Blauer Ritter“, da musst Du Dich schon mal hinsetzten und das Booklet aufmachen und die Texte mitlesen, das geht nicht anders.

 

rockfrank: Ich finde auch das Intro im Video zu „Im Namen der Nation“ toll. Das ist ziemlich laut. Es hat mich ein wenig erinnert an Jimi Hendrix in Woodstock, wo er die amerikanische Nationalhymne mit sehr verstörenden Kriegsgeräuschen untermalt hat, welche er nur auf seiner Gitarre erzeugte.

 

Julia Neigel: Also ich benutze Musik manchmal immer noch als Protest. Wenn ich was zu sagen habe, was mir am Herzen liegt, was ich Scheisse finde, dann nutze ich meine Texte dafür natürlich auch. Weißt Du, wann ich „Im Namen der Nation“ geschrieben habe?

 

rockfrank: Nein.

 

Julia Neigel: 2014. Weißt Du warum? 2014: Ich betone es deswegen weil 2014 gab es eine Krise in der Ukraine. Es gab ein Massaker in Odessa, da wurden ethnisch-russische Minderheiten umgebracht. Und dann gab es in Helsinki ein Treffen der Nato, wo eine Aufrüstung beschlossen wurde. Ich habe das gelesen und gesehen und dachte `bitte nicht´. Weil, wir sind Kinder, in unserer Kindheit gab es den kalten Krieg. Wir wissen noch was das heißt.

 

rockfrank: Zum Schluss, Weihnachten steht vor der Tür, Du bekommst sowohl ein Ticket für die nächste Taylor Swift Show geschenkt als auch für Helene Fischer und Rammstein. Für welches Konzert würdest Du Dich entscheiden und warum?

 

Julia Neigel: Ich würde mir Rammstein anhören, ich würde wissen wollen, was die machen. Und ich fand auch nicht gut, was man mit Lindemann gemacht hat zu dieser Zeit. Ich meine, dass er ein Schwerenöter ist, das wissen wir alle, und dass der nichts anbrennen lässt, das ist das eine. Aber was da passiert ist, das hat mich erschreckt. Also diese Art von Mobbing. Wie nennt man das heute zu Tage, „Hate speech“? Egal, Du weißt was ich meine. Also diese Mobben. Und diese Unschuldsvermutung, dass die gar nicht mehr existiert hat. Das haben wir ja vorher schon oft in der Corona Politik erlebt.

 

rockfrank: Ich bedanke mich für das sehr Gespräch und wünsche Dir für Deine musikalische sowie private Zukunft alles Gute.